Cover/Artwork: AIec Richard
In einem edlen High-Class-Office, hoch oben im 22. Stock eines grauen Bürotowers, umringt von teuren Designermöbeln, da hockte er stur und schaute grimmig drein: Prof. Dr. Dr. Alec Richard, der renommierte Psychiater, in seinem fetten, schwarzen Ledersessel, wie er im Smoking gekleidet genüsslich an seiner Pfeife saugte und kleine Wolkenringe durch den Raum segeln ließ.
Noch fluteten die letzten Strahlen der gerade untergehenden Sonne sein Büro und tauchten es in ein wohliges Orange, ehe sie vom Schwarz der hereinbrechenden Nacht aufgefressen wurden und es winzige Tröpfchen vom Himmel herabzurieseln begann.
»Was für ein beschissener Apriltag!«, dachte er sich. Es war die Nacht vom Vierten auf den Fünften. »Und mal wieder nur Gestörte unterwegs«, als er mit zwei Fingern durch die Jalousien lunzte und auf das wilde Treiben des ameisenartigen Haufens meilenweit unter seinen Füßen herabblickte. Aber das war ja schließlich gut fürs Geschäft.
Da schellte es. Ein Notfall. Mal wieder. Völlig aufgelöst stürmte eine junge Dame (unangemeldet) in seine Sprechstunde, wollte ihren Namen nicht verraten. Deshalb kritzelte der Professor bloß »Patientin D.« in sein Notizbuch und setzte dahinter noch einen dicken Punkt, denn sie war ein bisschen pummelig. Und sie war die vierte Verrückte, die es an diesem trübseligen Tag zu behandeln galt, noch dazu allem Anschein nach nicht besonders reich. »Ein ganz armes Dingeling…«, warnte ihn die Sprechstundenhilfe.
Da lag sie nun. Ausgebreitet auf seiner schwarzen Designer-Lederliege, bereit, den letzten Rest ihres Herzens auszuschütten. Ihr scheinbar einst glänzendes blondes Haar war kraus und zerzaust, wie die zerrupfte Wolle eines schwer misshandelten Schafs.
»Nun, Frau…? Wie kann ich Ihnen…?«
»Ich bin keine Frau!«, zischte das Wesen.
»Oh, Herr…«
»Ich bin auch kein Herr!«, starrte sie ihn mit weitaufgerissenen Augen an.
»Okay, Herr oder Frau (oder irgendwas) D. Ich merke, dass wir an dieser Stelle nicht wirklich weiterkommen!«
»Ich ordne mich keinem biologischen Geschlecht zu!« - Ihr psychotischer Blick sprach Bände. Man hatte es hier mit einem äußerst schwierigen Fall zu tun. Das geschulte Auge des Experten stufte das seltsame Wesen auf den geistigen Stand einer Zwölfjährigen (mit einem IQ von 33) ein.
»Aha, schön! Also schießen Sie los… wie kann ich Ihnen helfen?«, überschlug der Professor die Beine und faltete seine Hände zu einer Merkel-Raute.
Nervös rutschte er/sie/es/irgendwas auf der Couch hin und her, als würde es sie/ihr/ihm/irgendwas im Schritt jucken, so hilflos lag das arme Dingeling da, biss in einen regenbogenfarbigen Beißring und stotterte dabei seltsame, kaum verständliche Parolen.
»Nun, ich… ich weiß nicht so recht, wo ich anfangen soll…«, zitterte ihre Stimme.
»Ich habe so viele Probleme, Herr Doktor… oh, so viele Probleme!« war sie sichtlich den Tränen nahe.
»Wo drückt denn der Stiefel?«
»Nun, ich… ich weiß ja auch nicht! Ständig bin ich in Panik und glaube, dass hinter jeder Mauer wilde, demokratiefeindliche Nazis lauern könnten, die mich verfolgen und umbringen wollen!«
»Aha. Und sehen Sie diese Gestalten öfter, diese sogenannten ‚Nazis‘, wie Sie sagen?«
»Ja! Sie sind überall! Schauen Sie sich doch mal um!«, kaute sie wie verrückt (was sie ja auch war) an ihren buntlackierten Fingernägeln. Der Professor schaute sich um und sah niemanden um sich herum, außer diesen kleinen Haufen Elend.
Prompt kramte sie einen zerknitterten Kassenzettel aus ihrer linken Hosentasche und hielt ihn dem Professor vor die Nase: »Da! Sehen Sie das?!«
»Ja, natürlich. Ich habe Augen.«
»Und was lesen Sie da?«
Der Professor kniff die Augen zusammen und las: »Acht Euro Achtundachtzig…«
»Sehen Sie! Sie sind überall!«, schrie sie hysterisch, und fing wieder an zu heulen. »Und schauen Sie hier!«, schluchzte sie, zückte die Patientin ihr Handy aus der Tasche und präsentierte ein furchtbar pinkviolettes Fußballtrikot auf dem gerade noch so leuchtenden Display ihres halbzertrümmerten Handys.
»Sie meinen die 44 auf der Rückseite?«
»Falsch! Sehen Sie das nicht? Das sind SS-Runen!«
»Aha… wissen Sie Frau… äh, Herr… äh… irgendwas… normalerweise ist es mein Job, Leuten komische Bilder zu zeigen und sie danach zu fragen, was sie darin erkennen können.«
Plötzlich krümmte und kringelte sich die Patientin wie wildgeworden (was sie ja auch war) im Kreis auf dem Sofa und biss dabei fast ihren quietschbunten Beißring durch.
»Schwester! Spritze!«, rief der Professor prompt und doch monoton, und da kam auch schon von rechts die junge Praktikantin herbeigeeilt und verpasste Patientin D. einen heftigen Schuss unbekannter Substanz in den linken Oberarm. Sie zuckte und zappelte wie ein Zappelaal auf 10.000 Volt. Sekunden vergingen, da kam sie wieder zu sich.
»Wie sieht es denn mit ihren Finanzen aus?«, fragte der Professor und saugte wieder sanft an seiner Pfeife.
»Wie meinen Sie das?«, schaute er/sie/es ungläubig.
»Na ja, können Sie sich diese exklusive Behandlung hier überhaupt leisten?«
»Eigentlich… also, eigentlich nicht. Um ehrlich zu sein, bin ich fast pleite…«
»So so, und wie kommt das?«, runzelte Prof. Dr. Dr. Richard die Stirn und rückte sein Monokel zurecht.
Die Patientin seufzte. »Verstehen Sie, Ich fühle mich verantwortlich dafür, in Sachen Umweltschutz alles besser als die anderen zu machen! Deshalb investiere ich mein gesamtes Geld in wertvolle, nachhaltige Projekte, die der Welt zugutekommen und sie zu einem besseren Ort machen sollen.«
»Aha.«
»Neulich erst… da habe ich beschlossen, einen Großteil meines Kapitals, und eigentlich hasse ich ‚Kapital‘, in peruanische Radwege anzulegen!«, triumphierte sie plötzlich stimmungsschwankend.
»Und was gedenken Sie damit zu erreichen?«
»Na, dass wir ordentlich Co² einsparen! Außerdem werden viele andere Völker zu mir aufschauen und es mir ganz sicher gleichtun, nur um die Welt zu retten!«
»Sicher. Sie glauben also wirklich, dass Sie die Welt retten können?«
»Ja, natürlich?!«, stöhnte sie genervt und ließ ihre Augen pubertierend kullern.
»Hören Sie! Es geht um unseren Planeten! Wir müssen nur mehr Co² einsparen! Und ‚gegen rechts‘ demonstrieren! Dann schaffen wir alles!«
»Sicher schaffen Sie dann alles. Sie schaffen sich ab!« - Ein müdes Lächeln konnte sich selbst ein gestandener Wissenschaftler wie der alte Richard nicht verkneifen.
»Radwege in Peru sind genau das, was die Welt gerade braucht…«, kommentierte er das Geschehen und notierte beiläufig ein paar scheinbar wichtige Dinge auf seinen Block. (Aber eigentlich kritzelte er nur die Form eines Phallus.)
»Und die Minderheiten!«, sprang das Wesen auf. »Vergessen Sie bitte nicht all die fürchterlich marginalisierten Minderheiten, die es zu schützen gilt!«, sabbelte die Patientin weiter.
»Herr oder Frau oder irgendwas D… Ich habe eine ernsthafte Frage an Sie! Beantworten Sie diese bitte mit ‚Ja‘ oder ‚Nein‘, in Ordnung?«
»Okay!«
»Werden Sie zu Hause misshandelt oder leiden Sie unter selbstverletzendem Verhalten?«, nahm der Doktor ihren/seinen (irgendwas) wulstigen, von vernarbten Schnittwunden übersäten Arm in die Hand. »Wer hat Ihnen das angetan?«
»Ach, das?!«, zog er er/sie/es reflexartig den Arm zurück und kicherte verlegen.
»Das waren bloß die neuen Nachbarn, ein kleiner Zwischenfall, nichts weiter!«
»So so…«
»Ja, eine zwölfköpfige muslimische Familie aus Afghanistan. Eigentlich supernette Leute!«
»Ach ja…?«
»Ja! Sie müssen wissen, deren Kinder sind ganz hervorragende Messerakrobaten und da ist ihnen wohl während einer ihrer Übungen ein kleines Missgeschick unterlaufen! Sowas kann ja mal passieren…«
»Passieren diese Dinge öfter, diese ‚kleinen Missgeschicke‘, wie Sie sagen?«
»Nein, nein! Das sind bloß Einzelfälle!«
»So so!«, nickte Richard langsam bedächtig. »Wissen Sie, bevor Sie gehen, möchte ich Ihnen ein Geheimnis verraten…«
»Was denn, Herr Doktor?«,
»Schwester! Spritze!« – Und da schoss schon wieder die kleine Praktikantin von der Seite und rammte ihr eine Spritze unbekannter Substanz in den linken Oberarm.
Prof. Dr. Dr. Richard lehnte sich gelassen zurück, saugte genüsslich an seiner Pfeife und wartete, bis sie wieder zu sich kam, völlig verklatscht.
»Ich flehe Sie an, Herr Dr.! So helfen Sie mir doch, bitte! Irgendetwas stimmt nicht mit mir, glaube ich!«
»Ich weiß, Sie sind nicht allein mit Ihrer Situation. In der Tat leiden viele Menschen unter ähnlichen Problemen. Aber wissen Sie, wer ganz besonders betroffen ist?«
Die Patientin schüttelte den Kopf.
»Sie… Frau… Herr (irgendwas)!«
»Deutschland! Ich heiße Deutschland!« - Endlich erfuhr er ihren/seinen/etwas bürgerlichen Namen.
»In Ordnung, Frau/Herr/irgendwas von und zu Deutschland, ich diagnostiziere und attestiere Ihnen hiermit offiziell eine paranoide Schizophrenie, Sie sind offenbar manisch-depressiv und leiden unter einem ausgeprägten Borderline- sowie Stockholm-Syndrom.«
»Wie bitte?«
»Kasse oder Privatpatient?«, schielte der Professor nüchtern über sein Monokel und feilte weiter an dem gekritzelten Phallus, den er mit ein paar Schattierungen zu perfektionieren versuchte.
Die Patientin starrte indes Prof. Dr. Dr. Richard fassungslos an. »Das… das ist ja absurd! Ich hätte nie gedacht, dass ich… also…«, schlug sie die Hände über ‘n Kopf zusammen.
»Schwester! Spritze!«, gähnte der Prof. Allmählich wurde es langweilig. Dennoch setzte der Professor, professionell wie er war, ganz gekonnt sein schönstes Pokerface auf und wartete wieder ganz geduldig, bis sie zu sich kam.
»Tja, manchmal ist die beste Therapie, die Dinge aus einer anderen Perspektive zu betrachten. Und jetzt, da Sie es wissen, werden Sie vielleicht einen anderen Weg finden, mit Ihren Problemen umzugehen. Aber, ach… was erzähl ich da?! Sie hören mich ja gerade gar nicht!«, zuckte der Professor mit den Achseln.
Patientin D. raffte sich torklig auf. Sie war sichtlich zerstört. So zerstört war sie schon lange nicht mehr.
»Hören Sie«, sprach der Professor. »Ich verschreibe Ihnen diese blaue Pille hier. Die müssen Sie nur dreimal täglich nehmen, zusammen mit ein bisschen Asbach Uralt, Sauerkraut und Schweinekotelette und sich dabei dreimal um 360° im Kreis drehen. Verstanden?«
»Aber ich bin Veganer*in!«
»Sagten Sie gerade *in? Dann viermal!«
»Und das hilft ganz sicher?«
»So sicher wie 'ne Impfung!«, zwinkerte der Arzt.
»Wow, toll! Vielen lieben Dank, Herr Doktor! Sie haben mir schon wirklich sehr geholfen! Aber irgendwie spüre ich… da ist noch was…«
»Ich weiß, was Sie spüren! Dann hilft nur noch eins!«
»Und das wäre?«, fragte das ausgebrannte, geschlechts- und gewissenslose non-binäre Wesen und spürte urplötzlich diese ungewohnt knisternde, fast betörende Stimmung in der Luft. (Vielleicht lag es auch einfach an Prof. Dr. Dr. Richards unwiderstehlichem Herrenparfum. Eine erlesene Mischung aus Tabak und Alkohol.)
»Um der Reaktivierung ihres Geschlechtsempfindens wohlwollend beizusteuern, bedürfe es womöglich einer kleinen Sonderbehandlung, wie ich finde!«
»Aber, aber… Herr Doktor… das kann ich mir doch gar nicht leisten!«
»Machen Sie sich darüber mal keine Gedanken! Nur für Sie, weil Sie mir so schrecklich leidtun, mach‘ ich eine kleine Ausnahme…«, nahm der Professor ihre linke, schwulstige Hand. Sie schwitzte ganz höllisch.
»Und wie soll das jetzt gehen?«, starrte sie ihn mit ihren großen, absolut gar nicht unschuldigen Kulleraugen (und diesen Riesenbusen) an.
Da rückte der verrückte Prof. Dr. Dr. ihm/sie/es noch ein Stückchen näher, zog an seinem Hosenlatz und rief zum allerletzten Mal: »Schwester, Spritze!«
ENDE
© Alec Richard, 2024
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