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  • AutorenbildAlec Richard

Der WTF-Moment des Monats: Frau Antons letzter Ton


Cover/Artwork: AI Art by Axel Aldenhoven


SPOILER: Eines Abends musste ich völlig schockiert mitansehen, wie sie den Leichnam meiner schwergewichtigen XXL-Nachbarin aus der Wohnung hievten.


Über den Tod lacht man nicht, oder? Nein, aber ich zwinkerte ihm hin und wieder freundlich zu und erlaubte mir so meine kleinen Späße mit dem Sensenmann. Ich gratulierte Verstorbenen auf Facebook zum Geburtstag, aus reiner Gehässigkeit, da ich wusste, dass sie’s ja sowieso nicht mehr lesen können. Vielleicht war das meine ganz persönliche Art, mit dem Tod umzugehen.


Anders war das, als sie die Leiche meiner fülligen und inzwischen verstorbenen Nachbarin, Frau Anton, fanden. Ihr konnte ich nicht mehr gratulieren, denn sie hatte kein Facebook. Ich weiß nicht einmal, ob sie einen Computer oder Bücher besaß, geschweige denn, wann sie Geburtstag hatte. Eigentlich wusste ich so gut wie nichts über diese seltsame Frau, die seit Jahren nebenan wohnte, und doch bekam ich viel mehr mit, als mir lieb war.


Komisch – Da haust man fast eine gefühlte Ewigkeit Tür an Tür im selben 50er-Jahre-Altbau, ganz oben im Dritten, und trotzdem lebt man völlig aneinander vorbei. Dass sie drei (inzwischen verwaiste) Katzen namens »Simba, Kira und Coco« hinterließ, das wusste ich natürlich. Schließlich waren das die einzigen Worte, die ich sie tagtäglich durch unsere pappdünnen Wände brüllen hörte.

Allenfalls, wenn der Zufall es wollte, trafen wir uns zur selben Zeit im selben Hausflur (weil wir eben dort wohnten) und tauschten ein sporadisches »Hallo«, »Moin« oder »N’ Abend« aus. Aber das war auch schon alles.


Rückblickend machte sie einen ziemlich einsamen und traurigen Eindruck auf mich. Sie hatte es im wahrsten Sinne aber auch nicht leicht mit ihren über 100 Kilo (Oder Tonnen? Gegen Frau Anton wäre Ricarda Lang wahrlich noch als Topmodel durchgegangen.)


Ja, wir hatten wirklich keinen Draht zueinander. Und doch unterhielten wir uns fortlaufend, sogar mehr als sich vermuten ließ! Nur eben auf der Meta-Ebene.

Unsere ganz spezielle Form der Kommunikation basierte auf dem Austausch akustischer Signale, deren Schwingungen gewisse Reize beim andern auslösten. Tag für Tag und Nacht für Nacht gab jeder dem anderen sein ganz persönliches Stelldichein, besser gesagt ein Lärmorchester, zum Besten.

»SIMBA! KIRA! COCO! RUNTER DA!«, hörte ich sie ihre Katzen anbrüllen. Da polterte es wie wild und ich konnte mir förmlich vor meinem inneren Auge dieses Bild vorstellen, wie sie wahllos Dinge nach ihren putzigen Stubentigern schleuderte.


Und dann gab es da diese Frequenzen, die mich vorstellen ließen, wie Frau Anton vom Mettigel vollgefressen zur Märchenerzählerstimme eines Markus Lanz ganz sanft vor ihrem 300 dB-lautstarkem Fernseher einschlief. Und wie sie mit der Inbrunst einer strammen Wikingerdame zu Schnarchen begann und manchmal, da meinte ich zu hören, wie ihr riesiger Hintern zu wabbeln begann, wenn entzündliche Gase ihrem Darmausgang entwichen. (Ich meine sogar, sie bei »gutem« Windstand gerochen zu haben.)


Frau Anton musste sich hingegen auch mein Lärmorchester antun. Das ewige Fluchen, das ständige Husten und das Würgen und Rotzen am Morgen, das laute Ploppen der Bierflaschen, das Knipsen der Elektro-Feuerzeuge und auch musste sie sich anhören, wenn ich furzte, schnarchte, mir Pornos anschaute, einen von der Palme wedelte und dabei krächzende Laute wie die einer Schildkröte von mir gab.


Ja, wir kommunizierten ausschließlich nonverbal. Das äußerte sich besonders dann, wenn Frau Anton mal wieder gegen die Wand hämmerte, weil gerade tiefe Bässe durch die Wände dröhnten oder sie hörte, wie ich fickte – (was leider gar nicht so oft vorkam). Aber manchmal, da kommt halt alles auf einmal zusammen und dann knallt’s gewaltig.


Vielleicht hämmerte sie gegen die Wand, um mich anzufeuern, vielleicht auch nur aus Neid. Was es auch gewesen sein mag, Frau Anton hätte sicher einen triftigen Grund dafür gehabt, warum sie hämmerte. Denn sollte es irgendwer wagen, sich nach 22 Uhr nicht an (ihre) vorgeschriebene Vorstellung von Zimmerlautstärke zu halten, dann fackelte sie nicht lange und griff umgehend nach ihrer schlimmsten »Geheimwaffe«, dem sogenannte „Lärm“-Telefon. (Damit folterte sie mich!)


Wahrscheinlich hatte sie die Nummer unserer Hausverwaltung längst auf einer Kurzwahltaste eingespeichert, damit sie selbst im Mettigel-Delirium nur einen Wurstfinger betätigen brauchte, um mir prompt die Hölle heiß zu machen. Der Bauverein war nämlich so schlau, eine 24-Stunden-Hotline einzurichten, ohne vorher Leute wie Frau Anton bedacht zu haben. (Solche Trottel!)

Das lief dann meistens so ab (frei nach Gedächtnisprotokoll):

Mein Telefon klingelte. Ich hob ab.


»N’ Abend, Herr Richard! Schubert vom Bauverein hier, Sie wissen schon, warum ich anrufe, hm??«, hörte ich den ziemlich traurig und verbittert klingenden Kerl am anderen Ende der Leitung. Bestimmt hieß er Manfred, Horst, Dieter oder Klaus. Vielleicht hatte er auch vier Namen? Sir Manfred-Horst-Dieter-Klaus Schubert. (Der Letzte!)


»Öhm, nö! Ich hab keinen blassen Schimmer! Wieso denn?«, antwortete ich bewusst trotzig und gab mich völlig ahnungslos. (Dummstellen hilft bekanntlich immer!) - Manfred-Horst-Dieter-Klaus Schubert stöhnte leicht genervt, war ja nicht das erste Mal.


»Herr Richard, wie oft denn noch? Drehen Sie bitte die Musik leiser! Sonst dreht die Olle in fünf Minuten wieder am Rad! Hören Sie! Wir wollen doch alle keinen Ärger…?“


Seine Stimme klang verzweifelt. Und ich glaube, das war er auch.


»Aber ich hab‘ doch gar keine Musik an!«


»Wie jetzt?«


»Ja, echt!« - (Da drehte ich den Regler runter.)


»Na, dann is‘ jut! Sie ahnen gar nicht, wie furchtbar stressig die Alte sein kann!«


»Oh, doch… Sir Manfred-Horst-Dieter-Klaus! Schönen Abend noch!«


»Bitte, wie nennen Sie m… ?« - (TUT, TUT, TUT) – da legte ich auf.

Ja, man muss schon sagen, sie war echt sympathisch, diese Frau Anton. Geschätzte 122 Kilogramm Liebesmasse und absolut kein Hauch von Dekadenz. (Ich wette, hätte ich mich mal getraut, ihren Bauch zu streicheln, wäre das große Glück über mich gekommen und ich längst ein weltberühmter Schriftsteller!)


Besonders kommunikativ wurde Frau Anton immer dann, wenn die vier Sprösslinge der türkischen Nachbarsfamilie wieder einmal die anatolische Kreisligameisterschaft in ihrem Kinderzimmer austrugen und Frau Anton, genervt vom ewigen Gepolter (wo wir uns ausnahmsweise einig waren), Worte durchs Haus brüllte, die ich aus juristischen Gründen besser nicht zitiere.

So war sie halt, die Frau Anton. Ein circa 1,66 großes Kraftpaket, vollgepackt mit Kraftausdrücken und einer dunkelbraunen, Kinn-langen, fettigen Filzfrisur. Ihr Antlitz, mehr schwulstiges Trippelkinn als Antlitz, und dann waren da noch ihre vergilbten Katzenaugen, deren klitzekleine Schlitze aus ihrem Speckmantel hervorblitzten.


Jene Frau Anton, die permanent ein Duft von Turnhallenumkleidekabine umgab und alle fünf Treppenstufen für etwa fünf Minuten eine Verschnaufpause einlegen musste, sich dabei am Geländer festkrallte, um nicht rückwärts runterzurollen und wie die Kugel aus »Indiana Jones« alles zu zermalmen, was sich ihr in den Weg stellte.


Ihr Anmut glich der einer röchelnden Perserkatze mit Elephantiasis. Vielleicht verstanden wir uns deshalb so gut: Underdog und »Over-(weight)-cat« - Ein Kontrast, fast so romantisch wie in »Susi & Strolch«. Aber nein, ganz sicher war es der Subton, der all die Harmonie versprühte! Frau Antons Ton.


Nur ein einziges Mal, wenige Wochen vor ihrem Ableben, da traf ich sie ziemlich aufgeweckt im Treppenflur, als ich gerade schwer bepackt vom Einkauf die Stufen emporstieg. Ihre Wohnungstür stand speerangelweit offen, 70er-Jahre-Disco-Mucke schallte von den Wänden, es duftete ausnahmsweise mal nicht Katzenklo, sondern nach geräuchertem Fisch, wobei das für meinen Geschmack eigentlich dasselbe ist.


Im Hintergrund polterten mal wieder die Katzen, als ich ein tiefes, krächzendes Kichern hörte. Aus dem Augenwinkel beobachtete ich, wie ein ebenso stämmiger, kahlköpfiger Kerl in Unterhemd und Boxershorts die Abbiegung in Richtung Küche nahm. Hastig drehte ich mich um und kramte nach meinem Schlüssel, doch da stand mir ihre beleibte Gestalt bereits freudestrahlend im Türrahmen gegenüber, umhüllt von einem fast durchsichtigen, rosa Negligé. (Meine Netzhaut begann sich autonom zu zersetzen.)


»Guten Abend, Herr Richard!«, sprach sie in einem fast lasziven Tonfall, den ich so noch nie von ihr gehört hatte. »Haben Sie Lust auf selbstgebackene Pizza?«, lächelte sie mich an und streckte mir einen noch dampfend heißen Teller entgegen. Im Hintergrund ertönte wieder dieses Räuspern.


»Gabi! Kommst du? Supertalent geht los!«, hörte ich den Glatzkopf rufen, der offenbar ihr neuer Lover war.


»Was ist da drauf?«, fragte ich trocken (konnte es aber schon ahnen) und beäugte kritisch den mit Pizzastücken überladenen Teller, an dessen Rändern sich eine gelborangene Fettpfütze bildete, die jederzeit zu überschwappen drohte.


»Thunfisch!«, antwortete sie. (Ich hasse Thunfisch!)


»Und tonnenweise Käse!«, merkte ich an.


»Aus der Toskana! Den hat meine Mama vom letzten Urlaub mitgebracht! Wenn Sie wollen, können Sie auch mit uns…«


»Sehr nett, Frau Anton, aber wissen Sie…«, unterbrach ich ihren Redefluss und überlegte, wie ich schnellstmöglich aus dieser Nummer herauskomme.


»Hier, probieren Sie ruhig mal! Ist ganz frisch!“, wedelte sie mit einem Stück um meine Nase herum und verätzte nun auch mein Riechorgan.


»Wirklich… sehr nett von Ihnen! Aber wissen Sie, ich arbeite gerade an einem Text und…«, stammelte ich vor mich her.


»Wusste ich‘s doch!«, tönte sie.


»Was?«


»Na, dass Sie schreiben, Herr Richard! Ich hör Sie jeden Abend wie ein Berserker auf der Tastatur rumhacken!« - (Tja, diese Wände…)


»Aha…«, sagte ich bloß und kramte noch immer nach dem verdammten Wohnungsschlüssel, irgendwo musste sich das Scheißding versteckt haben.


»Warten Sie! Ich bin übrigens auch Schriftstellerin! Wollen Sie mal was von mir lesen? Es geht um einen tapferen Indianerjungen namens E…«, quasselte sie ungebremst weiter.


»Vielen Dank für das nette Angebot, Frau Anton…«, sprach ich nun sehr bestimmt, als meine »old Shatterhand« endlich den verfluchten Schlüssel fand, »aber ich würde jetzt lieber…« - was ihr offenbar missfiel, denn da knallte sie mir prompt die Tür vor der Nase zu.


Ja, sie besaß wahrlich Temperament, die liebe Frau Anton, toskanisches Temperament! Seither wechselte sie erst recht kein Wort mehr mit mir, grüßte mich nicht einmal. Und ich ahnte zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht, dass dies der letzte Ton Frau Antons sein würde, den ich zu hören bekam.


Es war der 20. Februar 2020, ein verregneter Donnerstag und alles andere als lustig, allein schon weil’s ein Wochentag war. Aber ja, man kann sagen, dass der Tag bereits beschissen angefangen hatte, da ich morgens verschlief, zu spät zur Arbeit kam, einen heftigen Anschiss von meinem »Teamleiter«, (dem Sklaventreiber Dirk) kassierte, der Kaffeeautomat außer Betrieb war, ich den Bus nach Hause verpasst hatte, im Regen warten musste und einen so richtig schön beschissenen Alltagshasstag erlebte.


Noch viel schlimmer war die Gesamtsituation und die zutiefst traurige Tatsache, dass ich zu jener Zeit in diesem räudigen XY-Callcenter verschimmelte, wo ich mir angeleint durch die Nabelschnur eines Headsets acht Stunden am Stück die Seele aus dem Leib pumpen ließ - nur um einen ausbeuterischen, mickrigen Hungerlohn zu verdienen.


Es war die reinste Hölle. Ich hasste diesen Laden. Und mein Leben sowieso. Allein über diese Zeit könnte ich seitenweise Text zu Papier bringen, äh… kotzen… (Vielleicht hole ich das eines Tages noch nach!) - Aber hier geht es ja nicht um mich, sondern um Frau Anton. Was ich nur damit sagen will: Damals war jeder Tag gleichermaßen beschissen. Beschissener hätte es also kaum werden können, glaubte ich zumindest.


Ein bisschen weniger beschissen machte es damals die furchtbar süße Denise. Eine kleine halbtürkische, linksgrünversiffte Punkerin, die ich zufällig an Weihnachten über einen (nun ehemals guten) Freund kennenlernt hatte. (Ehemals, weil der »gute Kerl« ihr Bruder war und mir später dafür aufs Maul haute, allein dafür, dass ich mit seiner Schwester in die Kiste sprang - aber auch das ist eine ganz andere Geschichte.)


Ich schweife ab… wie dem auch sei: Man kann ja jammern, wie man möchte. Ich hab’s überlebt. (Und vielleicht auch verdient.) Doch Gegen den Tod ist das alles andere der reinste Kindergarten. Ich will mir nicht genau vorstellen, wie Frau Anton verendete und doch komme ich (bis heute) von diesem Gedanken nicht mehr los.


Also nochmal von vorne: Mit Denise, einer gepiercten und volltätowierte »Malerin«, hatte ich jedenfalls so mein kleines Techtelmechtel am Laufen und nach einem übelst miesen Tag in diesem verkackten Puff von Callcenter freute ich mich auf nichts sehnlicher, als nach Hause zu kommen, zu duschen und auf Denise zu warten, die mich bald besuchen kommen würde und uns etwas (veganes!) kochen wollte. Also Fressen, Fernsehen und vor dem Schlafengehen nochmal ordentlich Sex, welch besseren Ausgleich zu einem solch beschissenen Tag wie diesen hätte ich mir wünschen können? (Edit: Na gut, auf vegane Kost hätte ich durchaus verzichten können, doch war ich zu dieser Zeit tatsächlich gezwungenermaßen Teilzeit-Veganer. So ist das halt mit den Damen: Wenn sie dich schon bewirtschaften, dann wird eben »das gegessen, was auf den Tisch kommt«. Wer kennt’s nicht?!)


Zurück zur Story: Beinahe wäre alles nach Plan verlaufen. Frisch geduscht und wohlriechend kam ich aus dem Bad, nur mit einem Handtuch bekleidet, als Denise gerade ihr selbst gezauberten Dinkelrouladen mit Rosmarin-Lavendel-Nuggets und einer feinen Marinade aus schimmelndem Torf servieren wollte, da klingelte es plötzlich an der Tür.


Ich zuckte zusammen. Wie immer, wenn dieser nervtötende Sound ertönte. Ein Klang, wie der einer kleinen trillernden Laserkanone: »PEW-PEW-PEW-PEW!«

(Warum? Warum ausgerechnet jetzt?, dachte ich.)


Verdutzt schauten wir uns gegenseitig an und verdrehten synchron die Augen. Das mochte ich an Denise. Sie hatte diesen mitfühlenden Groove. »Achtsamkeit« fände sie »voll knorke«.


»Erwartest du wen?«, fragte sie und kippte derweil eine grünbraune Soße über meinen Teller.


»Nope...«, murmelte ich und tat so, als wär nichts, richtete mein Schlabberlätzchen, da ich nur daran dachte, wie ich diese klebrige Matschepampe hinunterwürgen konnte. Nach solch einem verdammt langen, abgefuckten Tag brauchte ich schließlich dringend Energie, um später noch den Hengst rauszulassen.


So war der Plan! Doch…


Plötzlich trällerten die Laser-Kanonen erneut, es klingelte wieder! »PEW-PEW-PEW-PEW!« (Verdammte Scheiße! Kann man nicht einmal seine Ruhe haben?)


»Willst du nicht nachschauen?«, bohrte sie weiter nach.


»Nee! Interessiert mich nich…«, stocherte ich mit der Gabel eins dieser glitschigen Bio-Röllchen auf.


„Jetzt schau doch mal, bitte! Vielleicht braucht da jemand Hilfe!« - (Scheiß Achtsamkeit!)


»Ich habe aber keinen Bock, die Tür aufzumachen! Verstehst du das nicht?!«, flippte ich aus. »Ich will jetzt einfach fressen und ins Bett! Mit dir, verdammt!«, zerhackte ich das Bio-Röllchen, das inzwischen ziemlich massakriert aussah.


»So schon mal gar nicht! Spar dir bitte deine toxische Männlichkeit! Und jetzt schau nach!« - Immerhin hatte sie »Bitte« gesagt, tolle Achtsamkeit. Ach, Denise… sie war ja so sozial und gütig zu ihrer Umwelt, deshalb bumste sie mit mir.


»Okay, is‘ ja gut! Ich schau schon nach… Vielleicht brennt ja das Haus und vergiftet das Klima mit Schadstoffen?!«, erhob ich mich und meinen zynischen Unterton. Denise verdrehte ihre braunen Rehaugen und biss genüsslich in ihre frischverwelkte Matschepampe. (Wohl bekomm’s!)


Ich stapfte den dunklen Flur entlang zur Tür, öffnete sie und da standen sie: zwei verzweifelt dreinschauende Damen, eine jüngere und eine ältere. Ich befürchtete schon, dass es sich um die Zeugen Jehovas handeln könnte.


»Hört zu, Ladies! Packt euren verdammten Gotteswahn samt eurer dämlichen Broschüren und verschwindet von hier! Ich will jetzt fressen und ficken, kapiert?!«, brüllte ich so laut, dass es bis ins Erdgeschoss hallte. Dann eine kurze Stille und das nächtliche Zirpen der Grillen.


Leise vernahm ich ein genervtes Stöhnen von Denise, übertönt von Fernsehgeräuschen, die aus dem Wohnzimmer schallten. (Eigentlich wollten wir gerade irgendeine Serie auf Netflix schauen - ich glaube, es war »Sex Education« - was mir ziemlich gut gepasst hätte.)


»Nein, nein, Herr Richard!«, unterbrach mich eine ganz süß aussehende junge Brünette, die ich auf 27 oder älter schätzte.

»Ich bin Marlies, die Tochter von Frau Anton, ihrer Nachbarin!«, strahlten mich ihre grünglasigen Augen an.


Was zum Henker? Frau Anton war tatsächlich Mutter? Wie hatte sie denn das geschafft? Und da wurde mir erneut bewusst, wie weit doch Äpfel fallen können.


»Oh, okay… Ist irgendwas? Kann ich Ihnen weiterhelfen?«, fragte ich (für meine Verhältnisse höflich).


Im selben Moment trat die andere Dame näher, ein ganz runzeliges Schreckschräubchen, vermutlich um die 80. Ich war erstaunt, dass auch dieses fossile, schneeweiße Schneewittchen noch so frisch, schlank und lebendig (im Vergleich zu Frau Anton) daher kam.


»Ich bin ihre Mutter! Herr Richard, bitte sagen Sie, wann haben Sie meine Tochter zuletzt gesehen?«


»Frau Anton? Ich glaube, die hab ich schon seit Tagen nicht mehr gesehen«, lehnte ich im Türrahmen und mich kratzte mich grübelnd am Kinn.


»Erzählen Sie, gnädige Frau, wo soll sie denn sein?« - Und während ich so meine Tour abzog, dämmerte es. Erst vor kurzem hatte ich Frau Anton unten vorm Haus an den Mülltonnen rumlungern sehen. Sie schien verwirrt zu sein, aber das war sie immer. Irgendwann erzählte sie mir mal, dass sie die Reste aus der Biotonne sammelte, um diese an ihre drei Katzen zu verfüttern, wenn sie knapp bei Kasse war, aber das war sie immer.


Plötzlich stapfte ein verschwitzter, dicklicher, schrecklich heulender Glatzkopf in einem weißen, fleckigen Unterhemd die Treppen hinauf. Ich erkannte ihn wieder. Es war Frau Antons Zuckerbärchen. Immerhin trug es diesmal eine Hose.

Mr. Fleischmütze schien völlig außer sich und berichtete schnappatmend davon, dass er und Frau Anton vor kurzem einen kleinen Streit (vermutlich um das letzte Pizzastück) gehabt hätten. Daraufhin sei die Sache eskaliert und sie hatten sich getrennt. Nun befürchtete er das Allerschlimmste…


»GABRIELA! BIST DU DA DRIN? MACH GEFÄLLIGST DIE TÜR AUF!«, brüllte der reumütige Ex-Liebhaber und hämmerte voller Wucht gegen die Tür. Dann sackte er in sich zusammen, wie ein nasser Sandsack, und brach in Tränen aus. Erstmals hörte ich ihren vollen Vornamen.


»Jetzt hör doch auf, Jürgen! Das hat doch keinen Sinn! Wir finden die Gabi! Bestimmt ist das wieder so’n Spielchen von ihr! Kannst'e doch!«, versuchte die weise Mutter den heulenden Jürgen zu beruhigen. Frau Antons Mutter wirkte im Gegensatz zum Rest der Bande viel entspannter. Vielleicht weil sie dem Tod ein Stückchen näher war.


»Ich will‘s hoffen!«, wimmerte Jürgen, der Jürgen mit der Glatze, dem Vollbart, in seinem verschmutzten Unterhemd und der grünen Latzhose (immerhin!), der gerade von der Arbeit kam, als er erfuhr, dass seine geliebte Gabi plötzlich verschwunden war. Doch er schien sie riechen zu können.


»Ich sag’s euch! Da stimmt was nicht! Die ist da drin! Ich weiß das!«, schrie Jürgen heulend und trommelte wieder wie wildgeworden gegen die Wohnungstür, die schon kleine Risse bekam. Gabis sexy Tochter drängte ihn zurück.


»Ruft sie doch mal an!«, predigte die Mutter. Ich nickte.


»Haben Sie ein Handy parat, Herr Richard?«, fragte mich die süße Tochter.


»Klar!«, sagte ich, zückte mein Smartphone, ließ mir die Nummer diktieren und rief an. Es tutete, ein Freizeichen. (Schon mal gut!) - Gespannt hörten alle mit. Jürgen presste seine Ohren an die Tür und lauschte. Es dröhnte. Ein warmes Vibrieren durchdrang die Wände und transportierte die Melodie eines Michael Wendler-Songs. Man konnte ihr Telefon hören.


»ICH HÖR‘S! Ich kann es hören! Das ist Häschenparty!«, rief der Jürgen.

Dieses Häschen scheint Mausetot zu sein, dachte ich, traute mich aber nicht, diese Worte laut auszusprechen. So viel Anstand besaß ich dann doch, oder war es Feigheit? Die Angehörigen blickten mich ratlos an. Alles schwieg. Und plötzlich überkam mich ein seltsamer Schauder.


»Nun, ich habe einen Hammer und ein paar Schraubenzieher. Aber ich bezweifle, dass wir damit die Tür aufkriegen!«, gab ich trocken. Doch sie bestanden darauf.


Unsere Rettungsaktion blieb natürlich nicht unbemerkt. Kurz darauf schloss sich noch ein weiterer Hausbewohner an, es war Piotr, ein russischer Familienvater aus dem ersten Stock, der mit einer Schlagbohrmaschine angerückt kam.

Allerdings war Frau Anton so clever und hatte die Tür von innen mehrfach verschlossen, weshalb sämtliche Versuche, das Schloss zu knacken, scheiterten. Nach etlichen Minuten vergeblichen Herumhantierens beschlossen die Angehörigen letztendlich, Polizei und Rettungsdienst zu alarmieren.


Inzwischen hatte Denise ihre Matschepampe verschlungen und bekam Wind von dem, was sich gerade abspielte. Ganz achtsam stapfte sie rülpsend zum Türrahmen.


»Was 'n da los?«, fragte sie.


»Action!«, murmelte ich.


»Brauch da jemand Hilfe?«


»Ich glaub, nicht mehr…«, flüsterte ich ihr ins Ohr.


Als die Einsatzkräfte schließlich eintrafen, stieg die Spannung ins Unermessliche. Mittlerweile war die ganze Hütte wachgerüttelt und alle warteten nur sehnlichst darauf, die Wahrheit zu erfahren.


In Nullkommanix brachen die professionellen Panzerknacker die Tür auf und stürmten ins Innere der Wohnung. Das unvermisste Katzenaroma wehte durch den Hausflur und vermischte sich mit dem blauen Dunst meiner ungezählten Zigarette.


»Sie bleiben bitte alle zurück!«, befahl uns der Polizeibeamte. Sogleich herrschte totale Stille. Selbst der sonst die ganze Zeit schluchzende Jürgen war verstummt.

Minuten vergingen, wie in gefühlter Ewigkeit. Wir alle, ich, Denise, und die Angehörigen von Frau Anton warteten mit einer Gänsehaut im Nacken. Niemand ahnte, was uns erwarten würde.


Und so kam es, wie es (wohl oder übel) kommen musste. Der Notarzt, ein etwas älterer Lockenschopf, trat völlig gelassen aus der Wohnung und nuschelte bloß: »Sorry, die Frau ist tot!« - Er sagte das so völlig nüchtern, trocken und emotionslos, als sei irgendwo eine Glühbirne zerplatzt.


Und just in diesem Moment brannten bei allen Angehörigen die Sicherungen durch. Ein so noch nie erlebtes Heulorchester entbrannte unmittelbar vor meinen Augen. Sie alle flennten, wimmerten, weinten und schluchzten und fielen sich in die Arme. Für sie alle brach eine Welt zusammen. Und ich mittendrin. Richtig »cringe«, würde man vielleicht heutzutage sagen – Und somit war der absolute Tiefpunkt dieses ohnehin schon beschissenen Tages definitiv erreicht.

Es war ein ganz seltsames Gefühl. Irgendwie spürte ich nichts, und zugleich so viel. Denn obwohl mir Frau Anton nie wirklich etwas bedeutet hatte, empfand ich in diesem Moment ein gewisses Mitgefühl.


Von einer auf die andere Sekunde veränderte sich mein Blickwinkel, was sehr komisch war. Ich begriff, dass sie ein Mensch wie jeder andere war, der von anderen geliebt wurde, auch wenn ich das niemals hätte nachempfinden können. Für mich war sie ’n furchtbarer Drache.


Vielleicht ist das ja gerade das Besondere an der Liebe, dass sie so einzigartig und vielschichtig ist. Ich mein, es soll ja auch Leute geben, die Steine lieben. Warum dann nicht auch Frau Anton? (Ich bevorzuge aber die Steine!)


Noch ehe ich weitere abstruse Gedanken spinnen konnte, hievten die Einsatzkräfte Frau Antons leblosen Körper in einem provisorischen XXL-Sarg die steilen Treppen hinunter. Es war, als hätten sie Frau Anton in ein überdimensionales Kondom gestülpt. Ein letztes Mal stieg sie die Treppen hinab, freihändig.


Alles verlief in Zeitlupe. Auch der Putz, der von der Decke rieselte, als vier starke Männer den Schwertransport die steilen Treppen hinunter schleppten. Noch bis heute sind die dunklen Schmierstreifen dieser Nacht an den Wänden zu erkennen.


Erst später erfuhr ich: Ihre Leiche fanden sie auf dem Küchenboden. Offensichtlich hatte sie sich an einem Stück Thunfischpizza verschluckt und war erstickt. (Puh, zum Glück hatte ich damals nein gesagt!)


Ja, das Schicksal kann manchmal sehr hart sein. Das hatte sie nicht verdient, die (liebe) Frau Anton, im Alter von 53. Und was passiert nun eigentlich mit ihren armen Kätzchen? Da erwischte ich mich dabei, wie auch mir nun ein paar Tränchen über die Wangen liefen.


Mehrere Sanitäter begleiteten die traumatisierten Angehörigen nach draußen. Eine Totenstille kehrte ein. Nicht mehr als das hallende Stapfen ihrer Schritte und das furchtbare Schluchzen waren noch zu hören.


Die Töne verhallten, draußen brummte noch der Krankenwagen, durch die Glasbausteine des Treppenhauses flimmerte eine Blaulichtdisco.

Leise ließ ich die Tür ins Schloss rasten. Das Spektakel war beendet. Denise stand mindestens genauso geschockt an meiner Seite und klammerte sich fest an mich.


»Krass! Kranker Scheiße!«, staunte sie. Ich nickte bloß. Meine sonst so scharfe Zunge war verstummt. (Über den Tod lacht man nicht, oder?) - So standen wir da.


»Was jetzt?«, fragte sie, noch immer in Schockstarre.


»Lass schlafen…«, murmelte ich, noch immer in Schockstarre.


»Okay«, murmelte sie.


So ging sie dahin, die Frau Anton. Und so möchte ich abschließend sagen, dass ich Frau Anton, wo auch immer gerade ihr fülliger Geist umherschwirren mag, von Herzen alles Gute wünsche!


Möge sie als pummeliges Engelchen ihren Frieden (und ein stabiles Wölkchen) finden! Nur eins wünsche ich mir nicht: Dass wir uns im Jenseits wieder begegnen oder gar Nachbarn werden. So Wolke an Wolke. Das passt einfach nicht.


Sorry, Frau Anton… Ruhe in Frieden!


E N D E



© Alec Richard, 2023


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