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AutorenbildAlec Richard

Der WTF-Moment aus dem Jahr 2001 - Oder: "Pubertäre Kleinstadtpiraten"


 







Illustration: Web/Symbolbild (edited by Alec Richard)


SPOILER: Mein bester Freund und ich, wir wurden damals beim Klauen erwischt.


Hach, die Jugendsünden! Was wäre man nur ohne sie? Ich glaube ja, wer nichts auf dem Kerbholz hat, hat vom Leben nichts gelernt – oder ist einfach nur zu brav erzogen worden.


Die Geschichte beginnt im Frühling 2001, noch vor der Einführung des Euros und circa ein halbes Jahr vor den verheerenden Anschlägen des 11. Septembers, die unsere Welt, wie wir sie kannten, für immer verändert haben.

Auch ich machte gerade eine Veränderung durch. Kürzlich erst feierte ich meinen 14. Geburtstag und musste zu dieser Zeit die Klasse wechseln, weil ich aufgrund meiner furchtbar grässlichen Gesichtsakne sowie weit abstehender Segelohren ständig gehänselt wurde („Ey, Dumbo! Ey, Pickelfresse!“) und sich meine Noten dadurch erheblich verschlechtert hatten.


Nach langem Hin und Her wurden die Mobber zum Hofdienst verdonnert und bekamen die Anweisung, sich mir auf einen Radius von 100 Metern nicht mehr nähern zu dürfen. (Dafür hörte ich ihre Rufe dann aus der Ferne.)


Na ja, jedenfalls waren die Osterferien gerade zu Ende gegangen und diese qualvolle Tortur von Schule sollte wieder losgehen, vor der ich mich zu Tode fürchtete. Erst recht, wenn man als chronischer Außenseiter in eine neue Klasse versetzt wird und die Befürchtung hat, dass der ganze Horror wieder von vorne beginnen würde.


Am ersten Schultag stellte mich meine neue Lehrerin, Frau Riedel, der gesamten Klasse vor und hielt eine ermahnende Brandrede über die dramatischen psychosozialen Konsequenzen, die bei labilen Heranwachsenden auftreten können, wenn sie permanent gemobbt werden, wofür sie mich demonstrativ als exemplarisches Paradebeispiel missbrauchte, was einer Extraportion Demütigung gleichkam.


„Also, liebe Kinder! Habt ihr nun verstanden, was ich euch damit sagen will? Mobbing ist NICHT okay und absolut INAKZEPTABEL, hört ihr…? Nun schlagt bitte das Buch auf, auf Seite…“, beendete sie ihre Predigt und bat mich, ganz hinten in der letzten Reihe Platz zu nehmen - auf dem einzigen noch freien Stuhl.


Dort erblickte mich ein junger Schwarzkopf mit braunen Augen, dunklem Teint und einem wuscheligen 90er-Jahre-Topfschnitt und zunächst befürchtete ich, dass er womöglich auch zur Sippschaft dieser dauerpöbelnden Pausenhofschläger gehören könne. Doch beim Anblick der paar Kilos zu viel, die sich in den viel zu klein geratenen roten „Darkwing Duck“-Pullover pressten, taten sich Zweifel daran und ein bisschen Erleichterung auf.


Der mir noch fremde Junge nickte nur stumm zur Begrüßung, zog freundlich den Stuhl zurück, um mir Platz zu machen, aber schenkte mir sonst keinerlei Beachtung, weil er sich im Gegensatz zu den anderen plärrenden Rabauken voll und ganz auf den Unterricht konzentrierte. Erst in der Fünfminutenpause kamen wir ins Gespräch und er stellte sich als Carlos vor.


Die Frage nach der ethnischen Herkunft wurde damals noch nicht als rassistisch empfunden, sondern gehörte auf einer Gesamtschule mit über 90 % Migrationsanteil zum Standardrepertoire des alltäglichen Kennenlernens. Im Gegenteil, die meisten Kiddies brüsteten sich sogar stolz damit Türke, Kurde, Albaner, Marokkaner oder Russe zu sein, obwohl der Großteil von ihnen in Deutschland geboren wurde und sie ihr geliebtes „Heimatland“ maximal im Urlaub zu Gesicht bekamen.


Da man mir recht deutlich ansah, Deutscher zu sein, stellte mir auch nie jemand solche Fragen. Bis zu jenem Zeitpunkt. Carlos erzählte, dass er Halbitaliener und Halbsüdamerikaner sei. Der Vater aus Mailand, die Mutter aus einem kleinen bolivianischen Dorf.


„Und du? Bist 'ne Kartoffel, hm?“, fragte er furztrocken und klang dabei fast so, als hätte ich außer meine Akne noch irgendeine schlimme Krankheit. Ich nickte bloß.


„Das ist okay, macht mir nichts“, murmelte er in gelangweiltem Tonfall und kritzelte ungestört weiter auf seinem Block herum.


„Was zeichnest du denn da?“, fragte ich neugierig, beugte mich rüber und sah, dass er Bilder von Superhelden wie Batman, Spiderman oder Hulk malte. Ich wollte immer schon ein Superheld sein, bekam aber stets nur die Rolle des Peter Parkers.


„Hey! Ich liebe Superhelden-Comics auch! Und ich zeichne auch welche! Warte mal kurz!“, schwärmte ich voller Euphorie und zückte sogleich meinen Malblock aus dem Schulranzen. Carlos staunte nicht schlecht und war sichtlich beeindruckt von meinem künstlerischen Talent, denn meine Bilder schienen ihm besser zu gefallen als seine eigenen. Und seine gefielen mir besser als meine.


Sogleich hatten wir etwas gemeinsam und von diesem Moment an spürte ich, dass Carlos schwer in Ordnung war und irgendwie anders als die ganzen psychisch gestörten Brutalos, die sonst so in dieser stinkenden Bildungsanstalt ihr Unwesen trieben. Von Tag zu Tag verband uns eine immer enger werdende Freundschaft. Eine Freundschaft, wie ich sie eigentlich nur als Büchern und Comics kannte. Auch er gehörte innerhalb der Schulhierarchie zur untersten Kaste der Außenseiter, doch ließen ihn die Alphatiere weitestgehend in Ruhe, weil er eben aussah wie einer von ihnen.


Es tat unglaublich gut, endlich einen besten Freund an meiner Seite zu haben und wir unterstützten uns, wo wir nur konnten. Ich schrieb von ihm Mathe ab (absolutes Hassfach) und er von mir Deutsch und Englisch. Zwar wurden wir beim Schulsport noch immer als die Letzten ins Team gewählt, doch das störte uns nicht, denn im Fach Kunst waren wir die Könige und vertickten die ein oder andere Zeichnung an so manches Alphatier für ein paar Mark.

Nach Schulschluss hat mich Carlos oft zu sich nach Hause zum Mittagessen eingeladen, wo ich auch ein paar Brocken Italienisch und Spanisch lernen durfte. Es glich einer schönen Melodie, wenn seine Mutter lautstark durch die Wohnung rief: „CARLOS! ALEC! MANGIARE!“ – Und es duftete immer so köstlich! Seine Mama machte einfach die beste Pasta, die ich je gegessen hatte.


Nach den Hausaufgaben spielten wir oft „Age of Empires II“ an seinem nagelneuen Super-Computer (mit Windows 98, CD-ROM-Laufwerk und Internetanschluss!), den ihm sein Vater geschenkt hatte, der als Fernfahrer oft tage- oder sogar wochenlang nicht zu Hause war und wohl deshalb seinen Sohnemann mit reichlich Luxus und jeder Menge Taschengeld beschenkte. Materielles zum Ausgleich fehlender väterlicher Fürsorge eben.


Innerlich beneidete ich Carlos ein wenig (und manchmal auch nicht), denn ich hatte weder einen Super-Computer noch einen Vater. Doch mir genügte das, was ich in ihm endlich gefunden hatte: einen Freund.


Hingen wir mal nicht vorm PC, gingen wir oft mit seinem Hund „Cookie“ spazieren. Cookie, muss man dazu erwähnen, war ein ganz traurig anzusehendes Geschöpf der Natur. Eine durch und durch überzüchtete Promenadenmischung aus Malteser und Affenpinscher, deren Testosteronhaushalt so hochkonzentriert gewesen sein muss, dass der notgeile Cookie es unbedingt nötig hatte, jedes Bein (egal ob Tisch oder Mensch) wie vom Sex-Teufel besessen anzujuckeln. Entsprechend verklebt sah sein Fell rund um seinen Unterbauch auch aus. Was für ein bemitleidenswertes Wesen, dachte ich.


„Warum lasst ihr ihn nicht kastrieren?“, fragte ich Carlos, als wir durch den kleinen Park inmitten der Häuserblocks marschierten und sich der objektophile Cookie gerade mit dem Bein einer Holzbank vergnügte.


„Meine Mama meint, das sei eine Strafe, die nur Vergewaltiger bekommen sollen“, entgegnete er trocken und zuckte dabei mit den Achseln, während ich Cookie dabei zusah, wie er eifrig weiter die Holzbank malträtierte.


Und dann zuckte Carlos plötzlich noch mal zusammen, doch nicht aus gelassener Gleichgültigkeit wie sonst immer. Denn in diesem Moment tauchte urplötzlich ein großgewachsener, äußerst hässlicher Knollnasenjüngling auf, der uns auf seinem vermutlich gestohlenem BMX wie ein Aasgeier umkreiste und im Zweisekundentakt auf den Boden rotzte – mit einer Hand am Lenker, mit der anderen ließ er nahezu akrobatisch ein Butterflymesser rotieren.


„EY, ITAKER! GIB MA KIPPE, LAN!“, brüllte der starkbeharrte Halbstarke, der allerdings zwei Köpfe größer und somit stärker als wir beide zusammen war.


„Das ist Recep, komm lass schnell weg von hier!“, flüsterte mir Carlos zu, packte mich am Arm und riss den armen Cookie vom Holzbein los, noch ehe er zum goldenen Abschuss kam.

Obwohl ich Carlos für einen Nerd als ziemlich tough empfand, konnte ich seine Angst vor diesem Typen förmlich spüren. Wie sich herausstelle, wohnte Recep im Nachbarblock und war Carlos‘ persönlicher Bully. Recep war 17, ging in die 9. Hauptschulklasse, war aber schon mehrmals sitzengeblieben und hatte es auf meinen besten Freund abgesehen. Wann immer Recep auf Carlos traf, terrorisierte er ihn völlig grundlos.


Recep folgte uns natürlich und rief noch weitere üble Sachen wie „ISCH FICK DEINE MUDDA, DU BASTARD! SCHEIß ITAKER! ISCH FICK DEIN HUND!“ (hätte er mal tun sollen) hinterher. Wir rannten unserer körperlichen Unversehrtheit zuliebe und flüchteten in die nahegelegene Einkaufspassage, denn unter Erwachsenen fühlten wir uns sicherer und hätten schnell um Hilfe rufen können. Handys gab es zwar schon, aber niemand von uns besaß eins, Recep schon.

Schnaufend angekommen, leinten wir Cookie am Geländer der Einkaufswägen an und beschlossen einstimmig, dass uns nach der Hetzjagd ein bisschen Nervennahrung in Form von Süßigkeiten jetzt guttäte. Doch als wir beide den Supermarkt „HL“ betraten (den Carlos gern „Hitlers Lädchen“ nannte), mussten wir beide mit Bedauern feststellen, dass niemand von uns auch nur irgendeinen Pfennig in der Tasche hatte.


„Warte! Ich hab da eine Idee!“, murmelte mir Carlos zu, als wir durch die Gänge schlenderten und lechzend all die süßen Köstlichkeiten in den Regalen bestaunten.


„Was machst du? Was hast du vor, Mann?“, fauchte ich so leise wie nur möglich. Doch da war es schon zu spät. Carlos Finger langten rasch nach zwei Tafeln Schokolade, die er in Windeseile in seine Unterhose versteckte.


„Alter, hast du sie noch alle?“, zischte ich. „Was ist, wenn wir erwischt werden?“


„Vertrau mir! Ist nicht mein erstes Mal, kenn den Laden wie meine Westentasche!“


Ich konnte es nicht fassen. Mit Schweißperlen auf der Stirn näherten wir uns dem erlösenden Ausgang und sobald wir die Türschwelle überquerten, flitzen unsere kurzen Beinchen davon, als gäbe es keinen Morgen. Nur kaum hatten wir ein paar Meter zurückgelegt, eilte uns ein Supermarkt-Mitarbeiter hinterher und schrie: „HEY, JUNGS! IHR DA! HABT IHR NICHT ETWAS VERGESSEN?“ – „Scheiße!“, dachte ich. Das wars. Sie haben uns.


„Euer Hund!“, rief der Mann im weißen Kittel. „Wollt ihr das arme Vieh hier einfach stehen lassen?“ - Shit, wir hatten Cookie völlig vergessen! Doch dieser hatte die Ruhe weg und bellte nicht mal, da er fleißig damit beschäftigt war, die Metallstange zu „bearbeiten“.


Die Schweißperlen versiegten kurz darauf und ein unglaubliches Gefühl der Erleichterung durchfuhr meinen schmächtigen Körper. Unsere klebrigen Hände klatschten triumphierend zum High-Five ineinander und so suchten wir uns irgendwo ein stilles Plätzchen, wo uns kein Recep der Welt finden könne und wir seelenruhig und genüsslich unseren ersten gelungenen Coup zelebrierten.


„Boah… war das 'ne Action!“, schwadronierte mein immer noch adrenalinvollgepumptes 14-jähriges Ich.


Carlos grinste mampfend mit schokoladenverschmiertem Mund und reichte mir brüderlich die zweite Tafel rüber, deren Packung ein wenig nach Schniedel roch.

So „nerdy“ waren wir zwei kleine Pisser also doch nicht. Von diesem Erlebnis beflügelt, hatten wir so richtig Blut geleckt – und das war erst der Anfang unserer kleinkriminellen Karriere, die nun folgen sollte.


Die Hemmschwelle sank und so wurde es zu unserem täglichen Sport, auf sogenannte „Klauftour“ zu gehen (die Sauftouren kamen dann später mit 16). Das heißt, jeden verdammten Nachmittag, nachdem wir brav und fleißig die Hausaufgaben erledigt hatten, zogen wir auf unserer Tour quer durch die Stadt von Geschäft zu Geschäft und klauten einfach alles, was nicht niet- und nagelfest war: Schokolade, Chips, Bonbons, Gummibärchen, Coladosen, Energydrinks. Oft klau(f)ten wir sogar so viel Kram, dass wir gar nicht alles verputzen konnten und uns danach schlecht wurde.

Egal! Es war dieser Kick, der uns so sehr anheizte, dass ich uns in ein paar Jahren schon im Sitzkreis der anonymen Kleptomanen sah, nachdem wir unsere Haftstrafe abgesessen hätten. Aber das kümmerte uns nicht. Wir fühlten uns wie waschechte Gangster, obwohl wir nur ein paar blöde Diebe waren. Carlos professionalisierte seine Strategien sogar. Zu dieser Zeit kamen nämlich Baggy-Pants in Mode, also überweite XXL-Hosen, in denen man aussah wie ein Michelin-Männchen mit Elefantiasis und man lief so, als hätte man sich gerade eben frisch in die Hosen gepinkelt.

Und als hätten diese Hosen nicht schon genug Volumen, ließ sich Carlos von seiner Mutter noch zusätzlich die Seitentaschen umnähen und somit um das Dreifache vergrößern, sodass diese bis unters Knie reichten. Wofür das gut sein soll, fragte seine ahnungslose Mami jedoch nicht. (Gott, Katholiken können ja so naiv sein…) – diesen Trick hatte er sich übrigens aus dem Film „Kids“ abgeschaut, welcher es ihm ermöglichte sogar eine ganzes Bonsaibäumchen (samt Topf und allerlei Gartenzubehör) aus dem Gartencenter zu stehlen. Einmal ließ er eine ganze Heckenschere in den Weiten der Hose verschwinden, doch das absolute Highlight war die Benzin-Kettensäge für knapp 500 Euro. Ein Einsteigermodell, für uns Kiddies völlig nutzlos, aber eine weitere Trophäe in unserer Sammlung.


Unsere täglichen Klauftouren zogen sich über den gesamten Sommer hinweg und unser Größenwahn steigerte sich Tag zu Tag bis ins Unermessliche. Die Sachen, mit denen wir nichts anzufangen wussten, vertickten wir für ein paar Mark an die Raufbolde vom Pausenhof und ergaunerten uns beim Pöbel zugleich ein wenig Ansehen. Mit der Zeit sprach sich überall herum, dass wir zwei ganz gewiefte Diebe waren, die wirklich jeden Scheiß „ganz billig“ organisieren konnten. Na ja, die schmutzige Arbeit erledigte eigentlich Carlos. Ich hielt nur Schmiere und achtete darauf, dass uns niemand entdecken würde.


An einem spätsommerlichen Abend klauten wir mehrere Playboy-Magazine und (jetzt kommt’s!) zwei dicke Zigarren. Immer am Ende unsere Tour verzogen wir uns weit raus aufs Feld und konsumierten bzw. begutachteten unser frisches Diebesgut. Während ich so ganz vertieft durch die Erotikmagazine blätterte und mich von den grazilen Formen weiblicher Körper hinreißen ließ, zündete Carlos mit einem Streichholz die dicken Zigarren an, paffte ein paar Mal, hustete sich kurz die Lunge aus dem Leib und reichte mir eine davon rüber.


„Hier, mein Ganovenkollege! Probier' mal!“, empfahl er.

Ohne groß drüber nachzudenken, zog ich an diesem fetten Oschi, der dicker und länger als mein erigierter Schniedel war, hustete mir ebenfalls einen ab und erlebte vor lauter Lachen beinahe den Erstickungstod.


Carlos pisste sich weg, zog sich eine Sonnenbrille auf (ebenfalls geklaut), paffte erneut und sprach mit so tiefer und gepresster Stimme wie nur möglich für einen 14-Jährigen: „Jimmy… Du hast mich enttäuscht!“


„Aber Joe… wir sind doch eine Familie! Unser Fleisch und Blut!“, imitierte ich nun auch den obercoolen Mafioso. Jetzt krümelten wir uns beide vor Lachen am Boden, spürten das weiche Gras unter uns, blickten zum Himmel und genossen diesen herrlichen Sonnenuntergang. Fortan tauften wir uns „Fat Joe“ (Carlos) und sein finsterer Komplize „Skinny Jimmy“ (ich), was auf unsere Körperstatuen zurückzuführen war.


Es ließ nicht lange auf sich warten und da wurden aus Zigarren, Zigarillos und aus Zigarillos, Zigaretten. Ohne Scheiß, so fing ich wirklich an zu rauchen. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte dieser Sommer noch ewig so weitergehen können. Endlich hatte ich einen Freund gefunden und erlebte wilde Abenteuer, wie ich sie mir in meiner Fantasie immer ausgemalt hatte. Carlos feuchtete derweil seinen Daumen an und zählte blätternd die vielen D-Mark-Scheinchen, die wir durch unsere illegalen Pausenhofdeals erwirtschaftet hatten.


„Hey, ich hab’s! Komm, lass uns spontan nach Frankfurt fahren!“, schlug er auf einmal vor.


„Ich weiß nicht… die Sonne geht doch bald unter und meine Mama hat gesagt, ich soll..."


„Ach, komm schon! Sei kein Schisser! Lass uns mal was erleben, alter! Das haben wir uns verdient!“


„Verdient“? - Verdient hatten wir das auf keinen Fall, aber es gab so viele Dinge im Leben, die wir nicht „verdient“ hatten, also ließ ich mich breitschlagen.


Der Bahnhof lag nur etwa zwei Kilometer entfernt und nach rund 35 Minuten Reisezeit via S-Bahn fanden wir uns auf der berühmten Einkaufsmeile, der Zeil, wieder. Hier tobte im Gegensatz zu unserer tristen Kleinstadt das geschäftige Leben. Wie kleine Ameisen wimmelten wir durch das lebhafte Getümmel und bestaunten die vielen Attraktionen, die verführerische Leuchtreklame und die gigantischen Wolkenkratzer, die uns umgaben. Es war einfach sagenhaft aufregend, weil ich nie allein in eine größere Stadt fahren durfte. Erst recht nicht nach „Krankfurt“, wie meine Mutter diese verkommene Stadt gern schimpfte. Aber ich war ja nicht allein, denn mein bester Freund Carlos war bei mir.


„Komm, lass uns da mal rein gehen!“, zeigte Carlos auf irgendein großes Shopping-Center und sich bot für Diebe wie unsersgleichen ein regelrecht exotisches Festtagsmenü, da wir das Sortiment unserer heimischen Läden bereits in- und auswendig kannten.

Doch vor den Pforten des „Hertie“ angekommen begegneten wir, wie das Schicksal es so wollte, auf einmal Recep, wie er seitlich gelegen des Eingangs inmitten einer Gruppe anderer starkbeharrter Halbstarker Zigaretten rauchte und wieder mal sein Butterflymesser klappern ließ. Gerade versuchten wir noch umzukehren, da hatten seine glasigen Fischaugen uns schon ins Visier genommen.


„EY ITAKER! EY, PICKELDUMBO! KOMMT MA HER, LAN!“, brüllte er zu uns rüber.


„Lass mich das machen…“, flüsterte mir Carlos zuversichtlich zu. Unser Höhenflug der letzten Wochen verlieh ihm scheinbar ein neues Selbstbewusstsein. Jetzt wollte er es mit ihm aufnehmen.


„Was willst du, du blöder Penner?“, fauchte Carlos ihn an.


„Wallah, Itaker! Schwör, du hast ja Eier! Isch hab gehört, ihr klaut, hä?“


„Das geht dich einen verdammten Scheißdreck an! Und jetzt verpiss dich, du miese Schwuchtel!“, peitschte Carlos zurück. Worte, die ich sonst nie aus seinem Mund hörte.


Doch dieses eine Wort war zu viel: „Schwuchtel“, denn das verletzte Receps vermeintlich vorhandene „Ehre“, woraufhin Recep kurzerhand ausholte und Carlos eine fette Schelle verpasste, die meinen Freund wie einen Sandsack zu Boden klatschen ließ und Recep ihm dabei die einzige Packung Kippen, die wir noch hatten, aus der Hand entriss.


„NENN MISCH NOCH EINMAL SCHWUCHTEL UND ISCH FICKE DEINE GANZE GENERATION, DU HURENSOHN! SCHEIß ITAKER!“, brüllte er wutentbrannt, beschallt vom jaulenden Gekicher der anderen Hyänen.


„Wallah, Bruda! Dem hast du rischtisch gegeben! Schwör!“, bejubelten sie den Angreifer.


Mit geschwollener, knallroter Wange, einem Puls von 180 und sichtlich unter Schock stehend, raffte sich Carlos wieder auf und wir flüchteten geschwind ins Einkaufszentrum.


„Dieser miese Wichser… dem zeig ich’s noch!“, fluchte Carlos unentwegt. „Pass auf! Der wird schon noch sehen!“


„Ach, komm… Vergiss den blöden Vollidioten!“, versuchte ich meinen aufgebrachten Kumpel zu beruhigen, während ich allmählich ein kleines Suchtverlangen verspürte.


„Komm, lass uns lieber neue Kippen organisieren!“, schlug ich vor.


„Gute Idee! Ich brauch jetzt dringend 'ne Kippe!“, stimmte er zu. Ich konnte sehen, wie er noch immer kreidebleich am ganzen Leib zitterte, während wir uns auf Mission machten.

Im Kellergeschoss des „Hertie“ befand sich ein großes Lebensmittelgeschäft inklusive Feinkostwaren. Hier konnte nur die gut betuchte Bürgerschaft einkaufen. Wie immer zogen wir planlos durch die Gänge und Carlos stopfte sich die Taschen mit allem voll, was sein Herz gerade begehrte und angesichts seiner emotionalen Ladung schien dieses noch gieriger als je zuvor zu sein. Völlig außer Kontrolle geraten, packte er etliche Packungen Marlboros und eine Flasche des teuersten Weins in seine präparierte Baggy-Hose.


„Alter, übertreib’s mal nicht!“, zischte ich. Doch Carlos war so dermaßen in Gedanken verloren, dass er meine Worte gar nicht mehr wahrnehmen konnte.


„Scheiß drauf! Komm, lass schnell abhauen!“, gab er zurück.

Vorbei an den Kassen stiegen wir auf die Rolltreppen und sahen vor uns schon das erlösende Licht der Dämmerung. Nur noch ein paar Meter und wir hätten es geschafft. Doch es kam, wie es kommen musste und ich spürte plötzlich ein leichtes Tippen gegen meinen Rücken, das sogleich in einen Griff überging und fest zupackte.


„SOFORT STEHEN BLEIBEN, JUNGS! IHR KOMMT JETZT MAL MIT!“, ertönte eine tiefe Männerstimme. Es war der verdammte Kaufhausdetektiv. Wir waren gefickt.


„Scheiße, scheiße, scheiße!“, hämmerte es kreuz und quer durch meinen Schädel. Mein stockendes Herz rutschte runter zu meinen weichen Knien und ich glaubte jeden Moment, mich vollpissen zu müssen. Vor meinem inneren Auge sah ich schon den enttäuschten Blick meiner Mutter, wie sie mit tränenverschleierten Augen mich vorwurfsvoll anstarrte und immer wieder fragte: „Hab ich dich so erzogen, mein Junge? Hab ich dich etwa SO erzogen?“


Was wir an diesem Tag nicht ahnten: Dieses Lebensmittelgeschäft war nicht nur extrem überteuert, sondern verfügte anders als unsere heimischen Geschäfte über hochmoderne 360°-Kameras, die jeden Quadratzentimeter des Ladens aus allen Blickwinkeln überwachten.


„So, Jungs! Ich hab euch auf Band“, sprach der Sheriff und forderte Carlos auf, die Taschen zu entleeren, als wir wie zwei schweigende Lämmer auf der Anklagebank des kleinen stickigen Kaufhausbüros saßen.


„Was habt ihr euch nur dabei gedacht?“, forderte der Sheriff eine rasche Erklärung für unser Fehlverhalten, doch der Kloß in meinem Hals steckte so tief und fest, dass ich absolut keinen Mucks rausbekam. Auch Carlos schwieg.


„OKAY, ICH FRAGE NOCHMAL KLAR UND DEUTLICH!“, erhob der Sheriff seine Stimme. „WAS HABT IHR EUCH DABEI GEDACHT?“, wurde er immer lauter. Noch immer herrschte Totenstille.


„Na schön, Jungs… wenn ihr nicht mit reden wollt, dann eben mit der Polizei! Die Kollegen sind schon alarmiert und unterwegs. Ihr könnt das dann in aller Ruhe auf der Wache besprechen, wo euch eure Eltern abholen werden. Verstanden?“


Während mein gesenkter Kopf zum Boden starrte und ich an nichts mehr denken konnte, bemerkte ich im Augenwinkel, wie Carlos plötzlich furchtbar zu schluchzen begann und zwei Sekunden später völlig in Tränen ausbrach. Er heulte wie ein Schlosshund und die salzige Flüssigkeit schoss wie ein Wasserfall aus ihm heraus.


Er steckte mich förmlich an und nun brach auch mein Staudamm endgültig. Da saßen wir zwei Jammerlappen und quetschten uns die Tränendrüsen bis auf den letzten Tropfen aus.


„Recep…“, wimmerte Carlos leise vor sich hin, schluckte mehrmals, schnappte eifrig nach Luft und sagte immer wieder seinen Namen:

„Recep…!“


„Was, wer?“, fragte der Sheriff stutzig. „Welcher Recep?“

Als Carlos sich einigermaßen wieder fangen konnte, tischte er dem Kaufhausdetektiv eine geniale Lüge auf und erzählte dreist: „Dieser Recep wars! Er hat mich gezwungen! Ich würde doch NIE UND NIMMER etwas klauen! Hören Sie, Sie müssen mir glauben! Das war wirklich das erste Mal! Ich schwöre es Ihnen, bei Gott! Recep hat gesagt, wenn ich die Sachen nicht für ihn klaue, schlägt er mich wieder und er hat mir gedroht, meinen Hund anzuzünden! Meinen Hund! Mein geliebter Cookie! Hier, sehen Sie meine Backe? Das war Recep!“


„Backe? Das heißt gefälligst Wange, du kleine Arschbacke!“, antwortete der Sherif kühl. „Und jetzt erzähl mir mehr von diesem Recep. Wo steckt der Mistkerl?“


Eins musste ich Carlos wirklich lassen: Er war für einen trotteligen Nerd äußerst gerissen und besaß den nötigen Hang zur Dramatik, wenn es darauf ankam, was vermutlich auf seine italienischen Gene zurückzuführen war. Also führte er seine halbkonstruierte Geschichte aus, während ich schweigend daneben saß und das Familienfoto des Sheriffs auf dem Schreibtisch betrachtete. Er war Vater zweier Söhne, etwa in unserem Alter.

Kurze Zeit später trafen die Beamten ein, notierten den Vorfall und begleiteten uns unter Schutz nach draußen, wo Recep (der nun wirklich Halbstarke) noch immer mit seiner Hyänen-Gang auf der Gasse herumlungerte.


„Na, Herr Erdogan! Sie schon wieder!“, riefen die Polizisten. Offenbar war Recep längst kein Unbekannter mehr.


„Sie werden aufgrund von Nötigung, Körperverletzung und wegen unerlaubten Waffenbesitzes vorläufig festgenommen“, klickten sogleich die Handschellen und führten das sadistische Monstrum ab. Carlos und mir zauberte dieser Anblick ein hämisches Grinsen ins Gesicht, das aber nicht von langer Dauer sein sollte.


„Und ihr Zwei! Ihr werdet jetzt trotzdem zu euren Eltern gebracht und Ihnen das erklären müssen, hört ihr? Diebstahl ist Diebstahl!“, predigten die Cops.


Das Ende vom Lied: Recep landete für längere Zeit im Jugendarrest, Carlos‘ Eltern mussten eine kleine Geldstrafe zahlen und meine Anzeige wegen Mittäterschaft wurde fallengelassen. Um Sackhaaresbreite davongekommen, schworen wir uns hoch und heilig nie wieder auf Klauftour zu gehen und widmeten uns stattdessen wieder unserer Comics.


Bis dann das mit den Partys, den Frauen und dem Alkohol anfing. Aber das kam erst viel, viel später...


E N D E


© Alec Richard, 2022



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