Cover/Artwork: AI Art by Axel Aldenhoven
Alec war kein 08/15-Autor. Er war »Künstler schwersten Grades«, wie er gern behauptete, nachdem er seine vierte Büchse Bier für den Tag geöffnet hatte.
Nun, an diesem besonderen Abend war er auf dem Heimweg von der Tankstelle, die Arme lässig baumelnd, eine halbleere Dose im Schlepptau, doch noch genügend Nachschub im Matrosenrucksack. Torkelnd pfiff er in Gedanken Seemannslieder. Nein, Alec war nicht betrunken. Er war - wie er es nannte - in einem »äußerst kreativen Modus«.
Ein nassgrauer Tag irgendwann Ende Juli: dünne Tröpfchen rieselten vom Himmel herab, fast ging die Sonne unter. (Und alles andere hoffentlich gleich mit!) – Es klimperte und klirrte aus seiner Tasche, als er im schummrigen Licht der Dämmerung die Allee hinunter zu seinem Haus stapfte.
Im Slalom näherte er sich langsam seinem Ziel. Bald hatte er es geschafft. Nur noch wenige Meter, sagte er sich. Nur noch wenige Meter, doch dann passierte es: »ACHTUNG! Vollbremsung!«, dröhnten die Alarmglocken in seinem Schädel. Schnitt! Stuntszene!
Beinahe hätte er sich mit einem fast hollywoodreifen Stunt-Move auf die Fresse gelegt, wäre Alec nicht mit einem dreifachen Salto rückwärts um das ihm unbekannte Objekt herumgesprungen, auf das er plötzlich gestoßen war. Da war etwas! Mitten auf dem Bürgersteig! Nur was? Mühsam versuchte er, seinen Blick zu schärfen, um zu erkennen, was er da sah. Und dann sah er SIE...
»Tatsächlich, ein Schneckchen!«, nuschelte Alec benommen und blieb (wie von Medusa zu Stein erstarrt) stehen.
»Hallo, kleine Lady! Wohin so schnell des Weges?«, winkte er dem winzigen Wesen zu, doch die stolze Hausbesitzerin war sich wohl zu fein, diesen freundlich gemeinten Gruß zu erwidern und blieb stattdessen stur auf ihrem Platz kleben - ohne Alecs Avancen auch nur die geringste Beachtung zu schenken. (Ob sie wohl für mehr Klimaschutz protestierte und Alec für einen Schwurbler hielt?)
»So! Sind wir also anspruchsvoll, Madame? Reden wir nicht mit jedem, hm? Typisch Eigenheimbesitzer! Hältst dich wohl für was Besseres!« - Aber das Schneckchen schlurfte einfach schnurstracks einen Millimeter weit davon. (Doch keine Klimakleberin!)
»Und jetzt einfach abzischen! Schon klar!«, brüllte der absolut nicht betrunkene Alec der schüchternen »Dame« hinterher, die offensichtlich die Flucht ergriff.
»Okay, Honey… ich weiß, dass du nicht so leicht rumzukriegen bist, aber dann gib mir doch wenigstens 'ne Chance!« – Doch: keine Reaktion.
Es machte ihn fuchsteufelswild, wenn die Damen ihm gegenüber so distanziert und unnahbar waren. Darauf kam er absolut nicht klar. Was sollten die Spielchen? Immerhin war er »A L E C R I C H A R D!« – welche Frau kann da schon nein sagen?! – (Er hieß ja nicht »Lindemann«!)
Doch handelte es sich überhaupt um eine Frau? (Heutzutage kann man sich nie so sicher sein!) – Und können Schnecken wirklich ihr Geschlecht wechseln? Irgendwo hatte Alec mal was davon im Internet gelesen, aber man soll auch nicht alles glauben, was da so geschwurbelt wird.
Irgendwas passierte da gerade mit ihm. Er spürte es tief in seinem vernarbten, aber gerade noch pulsierenden Herzen. Er spürte die Magie dieses außergewöhnlichen Augenblicks, aber er konnte noch nicht ganz begreifen, was da in ihm vorging.
Es war einfach der pure Wahnsinn! Was für ein Prachtstück sie doch war! War das etwa ein Anflug von...? »Nein, nein! So’n Unsinn!«, kicherte Alec verlegen und schlug sich solche Gedanken schnell aus dem Kopf.
Er war überwältigt von so viel Anmut und so viel Schönheit. Solche Schnecken sieht man heutzutage nur noch selten auf der Straße! Ein ganz zierliches Schneckchen, dessen grazile Erscheinung seine Betrunkenheit klarer zu durchbrechen schien als die milchigen Strahlen der gerade aufblitzenden Abendsonne.
Ihr spiralförmiges, kastanienbraunes Gehäuse glich einem futuristischen Bauwerk, das majestätisch auf dem wabernden Weichkörper des schlurfenden Wesens thronte. Glänzende Silberstreifen mit einem Hauch von Gold zogen sich über die glattgerillte Oberfläche.
Ihre Fühler, so zart wie kleinste, schleimige Tentakel, gekrönt von lustigen Saugäpfeln, die sich mit einer unfassbar eleganten Langsamkeit bewegten und einen hypnotischen Tanz im Abendwind aufzuführen schienen. Und dann dieser fast schwebende, glitschige Schleimkörper. Grandios! Ihr Anblick war einfach faszinierend.
Endlich kam die Sonne wieder zum Vorschein und tauchte die beiden ins Rampenlicht, als hätte Petrus plötzlich die Scheinwerfer auf diesen einen romantischen Moment gerichtet. Und da erkannte Alec in jedem Lichtreflex dieser göttlichen Schöpfung einen kleinen Spiegel der Natur.
Sie war nicht nur eine einfache Schnecke, sie war ein Meisterwerk der Evolution! (Darwin, du alter Schneckerich!) – Ein Meisterwerk, das auf dem verdreckten grauen Beton des Gehwegs völlig fehl am Platz war. Ihr Wesen schrie förmlich nach einer Umgebung, die ebenso wunderschön wie sie selbst war. Und Alec war fest entschlossen, ihr genau das zu geben.
Vor allem wegen ihres (durchaus steigerungsfähigen) Tempos befand sie sich in akuter Gefahr, von blöden Passanten oder Radfahrern geradewegs zermatscht zu werden. Das durfte Alec auf keinen Fall zulassen!
»Wollen wir händchenhaltend die Straße überqueren? Na, wie wär’s?« - Doch das Schneckchen antwortete nicht.
»Ach, Scheiße! Du hast ja gar keine Hände…«
Der nicht mehr ganz so junge jecke Recke blickte auf die Schnecke herab und musterte sie durch seine trübe Linse: »Hör mal, Kleines! Du bist eine furchtbar süße Schnecke! Auch wenn du dich nicht für mich interessierst, hast du es verdient, beschützt zu werden!«, flüsterte Alec, wobei er sich ganz doll anstrengte, möglichst nicht zu lallen.
»Ach, was soll’s! Du verstehst ja sowieso kein Wort von dem, was ich sage!«, lallte er.
Doch plötzlich tat sich was: Die kleine Schnecke streckte ihre Fühler aus und sah Alec zum ersten Mal mit ihren niedlich schielenden Kulleraugen an, die hin und her wackelten und ihn sofort in ihren Bann zogen.
Sogleich sah er diese tiefe Traurigkeit in ihren Augen (wenn es denn ihre Augen waren) und erkannte ihren stillen Hilfeschrei – Nun gab es keine andere Option mehr, diese Prinzessin in Not musste dringend gerettet werden!
»Oh, Baby! Schnall dich gut an! Ich hol dich hier raus!«, krempelte Alec die Ärmel hoch, zog noch ein letztes Mal an seiner Kippe, schnipste sie weg und setzte sich ganz lässig die Sonnenbrille auf. (Da er kein Superheldenkostüm besaß, versuchte er auf andere Weise, seiner heldenhaften Coolness optisch einen Ausdruck zu verleihen.)
Er schaute sich um (ob irgendwo Kameras lauerten) und entdeckte ganz in der Nähe einen wunderschönen Garten, ein wahres Paradies für die kleine Schnecke. Überall Blumen, Büsche, Sträucher, ein paar Steine und saftige Wiesen.
»Da gehört so ein Schneckchen wie du hin!«, schwärmte Alec und für einen Moment glaubte er, sie würde ihm zuzwinkern. Doch war dieser wunderschöne Garten Eden von einem hohen Gitter umzäunt, umringt von Stacheldraht und drumherum zog sich ein Burggraben, in dem blutrünstige Haie und Piranhas nur darauf warteten, irgendwas zu zerfleischen.
»Keine Sorge, holde Maid! Sir Captain Alec wird dich in Sicherheit bringen!«, beugte er sich vor und packte sie mit zwei Fingern am Häuschen, wodurch sich der Sog löste, es »flupp« machte, und die zu rettende Prinzessin sicher auf seiner Handfläche landete und sie sich an den starken Fingern des Helden festsaugte (ja, saugte!) – es war fast so dramatisch wie im Film »Bodyguard«, nur dass Whitney Houston in diesem Fall die Hand von Kevin Costner ziemlich vollgeschleimt hätte. (Na gut, vielleicht hat sie das ja auch!)
Mit der angesaugten Schnecke in der einen Hand und dem fast leeren Bier in der anderen Hand, wurde ihm sogleich bewusst, dass er sich von einer Sache trennen musste, um seine Mission zu erfüllen. Keuchend stellte er sein fast leeres Bier ganz tapfer auf den dreckigen Asphalt und beschloss, aufs Pfand zu verzichten.
Sein eiskalter Jägerblick visierte den Garten an. »Wir schaffen das!« sagte er zu sich selbst und legte seine schützende Hand über die Schnecke, dich sich spürbar fest an ihn klammerte. Wagemutig sammelte er all seine Kräfte zusammen. Dann zählte er langsam von drei runter.
»Drei… zwei… eins… Geronimoooo!«, schrie er wie ein Berserker, stürmte drauf los und sprang, sprang durch die Lüfte. Wie von Ikarus beflügelt, gelang es ihm um Sackhaaresbreite den Zaun zu überwinden, wobei nur ein geringer Teil seiner Kopfhaut abgerissen wurde und am Stacheldrahtzaun hängen blieb.
Mittels filmreifer Hechtrolle gelang es dem Helden den Stoß abzufedern, um so die Schnecke vor dem Aufprall zu schützen. Ihm wurde schwarz vor Augen. Bunte Sternchen tänzelten wildkreisend umher. Die Welt drehte sich, doch Alec ließ sich nicht beirren. Noch einmal sammelte er all seine Kräfte und richtete sich auf.
Er hatte seine Mission zu erfüllen. »Ein Alec muss tun, was ein Alec tun muss!« – Und da sah er nach der Schnecke, nach diesem lieben Geschöpf, das immer noch unversehrt und wohlbehalten an seiner Hand klebte. Und ihn vollschleimte. Damit kannte er sich bestens aus, mit Frauen, die ihn „vollschleimten“.
»Ich glaub', du magst mich doch, oder?«, sprach er zum Schneckchen, jetzt wo sie fast in Sicherheit war, und da tat sie es: die Schnecke kroch ganz langsam, fast wie in Zeitlupe aus ihrem Häuschen und schien sich mit einem fröhlichen Fühlertanz bedanken zu wollen. Alec lächelte zufrieden. (Das tat er selten.)
»Na also, geht doch!«, freute sich der Held über seine gelungene Tat, und da fiel ihm ein, dass er noch keinen Namen für dieses liebevolle Wesen hatte.
»Hör zu, Darling! Ich taufe dich auf den Namen Emily! Einfach weil das so süß klingt, für so eine kleine Schnecke wie dich, find'ste nich?«, und schon war sie wieder im Haus, schneller als sie herausgekommen war.
»Okay, okay! Schon gut! Vielleicht bist du ja gar keine Frau? Was bist du dann? Komm schon, verrat es mir!« – Doch »Emily« (oder Emilio) reagierte nicht.
»Ach ja, das haben wir gern! Erst lässt sich die Prinzessin vom Helden retten, aber dann zeigt sie ihm die kalte Schulter! Ganz typisch!« – Doch »Emily« (oder Emilio) reagierte nicht.
»Na gut, wie du willst, letzte Chance, du Diva! Ich setz dich jetzt irgendwo ab und dann trennen sich unsere Wege für immer, verstanden? Aber komm bloß nicht auf die Idee, mir nachher hinterherzulaufen! Ich weiß, wo dein Haus steht! Kapiert?!« - Doch »Emily« (oder Emilio) reagierte nicht.
»Ach verdammt, was soll’s! Vielleicht bist du ja doch ‘n Pimmelkopf… Mir egal! Mach’s gut, du schleimige Kreatur unbekannten Geschlechts! Leb wohl!«
Ein letztes Mal streichelte er das Häuschen des kleinen Tierchens und legte es mit äußerster Vorsicht, als würde er einen Schatz tragen, auf ein nahegelegenes Salatblatt nieder, umgeben von Tomaten und Radieschen.
»Hier bist du sicher, du Wasauchimmer!«, hauchte Alec der Schnecke zum Abschied ins Ohr, sofern Schnecken überhaupt hören können, und ehe er sich darüber ärgern konnte, nicht »Schneckologie« studiert zu haben (falls es das gibt), verkniff er sich ein paar Tränchen und stapfte von dannen.
Da bemerkte er, dass das Gartentörchen die ganze Zeit offen gestanden hatte und er völlig umsonst über den Zaun gesprungen war, was ihm im nächsten Augenblick wieder völlig gleichgültig erschien, denn plötzlich hörte er ein bedrohliches Klicken und eine raue Männerstimme aus nicht allzu weiter Entfernung, die schrie: »RUNTER VON MEINEM RASEN, DU MIESER JUNKIE!«
Eines wurde nun klar: Auch wenn der dauerbesoffene Alec manchmal etwas langsam war, so konnte er doch schneller durch Hecken huschen als die schnellste Schnecke des Planten. Nur gehörte er leider nicht zu dem mobilen Eigenheimbesitzern und erntete als Dank für seinen Mut ein paar Dornen und Zecken.
Er rannte, stolperte, fiel, stand auf, rannte, fiel, schrammte sich das Gesicht und während er so um sein Leben rannte, wurde ihm wieder einmal bewusst, dass die Welt nur noch aus verrückten Psychopathen bestand.
Aber Alec, der unerschütterliche Held, konnte stolz auf sich sein. Er hatte es geschafft. Er hatte die kleine süße Schnecke gerettet. Triumphierend, wenn auch etwas wackelig, machte er sich auf den Heimweg und fiel ins Bett.
Am nächsten Morgen wachte er mit einem heftigen Kater auf und konnte sich nur noch vage an die Ereignisse des Vorabends erinnern. Als er sich gerade seine müden Augen reiben wollte, bemerkte er auf einmal einen kleinen Schleimstreifen, der von seinen Fingerspitzen tropfte. Ob Traum oder nicht, Alec fühlte sich wie ein Held.
Und vielleicht war das der Beginn einer neuen Geschichte, die er schreiben könnte - die Geschichte eines (gar nicht) betrunkenen Autors, der eine furchtbar süße Schnecke vor dem sicheren Tod rettet und sich dafür in ein waghalsiges Abenteuer stürzt.
Und das alles nur aus Liebe.
ENDE
© Alec Richard, 2023
Sehr phantasievoll dargestellt, man hat im Kopf Bilder und die Fantasie schlägt Purzelbäume. Die Schnecke bekommt eine Persönlichkeit eingehaucht. Jetzt sehe ich Schnecken aus einem anderen Blickeinkel, EBEN ALEC Richard's Schneckchen. Zu schön.❤️